Untertitel / Graf. Technik:
Zentralbibliothek Zürich, Ms. C 54. (Faksimile- und Kommentarband, 2 Bde.)
Schlagwort:
Handschriften - Faksimile, Illustr. Bücher - allgemein, Geschichte - Mittelalter, Occulta, Masonica, Astronomie
Bemerkung:
Vergriffen! Nr. 619 von 980 Exemplaren. Ein astrologisch-medizinischer Ratgeber. Die "Atomphysik" des Mittelalters. Der spätmittelalterliche Mensch sah sich von einer irdischen Welt umgeben, deren stofflicher Aufbau von der Elementenlehre des Empedokles beschrieben wurde: Feuer, Erde, Wasser und Luft sind die vier Grundstoffe, aus denen sich alles konstituiert. Auch der menschliche Körper ist diesem Schema verhaftet, nur sind es hier die "Körpersäfte" nach Hippokrates, die die Elemente vertreten. Die Geltung der Elementenlehre erwies sich als nahezu unbegrenzt und schloß eine Vielzahl von Umwelterscheinungen ein, so etwa das Viererschema der Jahreszeiten, die Skala der Farben und auch die Verordnung pflanzlicher und mineralischer Heilstoffe. Nach mittelalterlichem Weltbild ist der Mensch sowohl wesensmäßig als auch gesundheitlich von kosmischen Kräften bestimmt. Das beginnt mit dem Klima, dessen jahreszeitliche Schwankungen vom Lauf der Sonne durch den Tierkreis bestimmt werden, führt zur Wertigkeit der Monatstage, die von den Mondphasen abhängt, und äußert sich im Augenblick der Geburt, wo das herrschende Tierkreiszeichen, der den Tag regierende Planet und nicht zuletzt die Mondphasen Charakter und Schicksal des Neugeborenen bestimmen. Dieses vielschichtige astrale Wirkungsgefüge war äußerst komplex und wurde im Rahmen eines Hochschulstudiums als eigenes Unterrichtsfach gelehrt. In dieser Situation sprang die Laienastrologie ein, die auf aufwendige Berechnungen und Tabellen verzichtete und dem Nichtfachmann handlich aufbereitetes Wissen vermittelte. "Vom Einfluß der Gestirne" ist eine solche Zusammenfassung laienastrologischer Texte. Die Schrift weist dem Hausvater den Weg durch die klimatisch bedingten Schwankungen des Jahres, lehrt ihn das Schweißbaden, läßt ihn wissen, wann er sich und den Seinen Blut entziehen, Abführgetränke reichen oder Einläufe machen lassen soll, und warnt ihn vor den schrecklichen Folgen, die der Aderlaß an verworfenen Tagen nach sich zieht. Vor allem wichtig sind die Planeten, die als Stundenregenten eingeführt werden. Ihre Stellung, ihr Lauf und ihre Anordnung untereinander sowie in bezug auf den Tierkreis kennzeichnen das makrokosmische Geschehen, das seinen Einfluß auf irdische Gegebenheiten geltend macht. Sie bestimmen Wetter, Jahreszeiten, aber auch Tage und Stunden, wirken in alle Vorgänge, in alles Zeitliche hinein und strahlen selbstverständlich auch auf den Menschen aus. Charakter, Schicksal und Lebenserwartung des einzelnen Menschen werden von den Sternen und Planeten beeinflußt; auch auf den Ablauf der Krankheit haben sie Einfluß, und jeder Arzt tut gut daran, ihre Stellung bei seinem Behandlungsplan zu berücksichtigen. Dieses Kompendium wird "Iatromathematisches Hausbuch" genannt. Unser Werk, der "Codex Schnurstab", benannt nach seinem Auftraggeber, einem Nürnberger Patrizier, nimmt unter den altdeutschen Sammelwerken einen besonderen Platz ein, da es in unerreichter Form diese Buchart zur Geltung bringt und durch seine ausgewogene Gestaltung etwas von der Harmonie des mittelalterlichen Weltbildes in unsere Zeit transferiert. Die Handschrift beginnt von zwei späteren Händen aufgezeichnet mit genealogischen Angaben zum Geschlecht der Schnurstab. Danach folgen Tafeln zur Mond- und Festtagsberechnung, denen sich wiederum ein Kalender mit Monatsregeln anschließt. Danach folgen die Tierkreiszeichen in zwölf ausführlichen, reizvoll bebilderten Kapiteln. Als zweiter Themenbereich folgt die in sieben Teile gegliederte Textgruppe von den Wandelsternen, die neben einer Neujahrsprognose, den Stundenregenten sowie einer Darstellung der oberen Sphären vor allem eine aus verschiedenen Teilen zusammengestellte Planetenlehre enthält. Ein weiterer Themenbereich ist den Temperamenten gewidmet und schildert anschaulich unterstützt von ausdrucksstarken Miniaturen Verhalten und Eigenschaften der vier schon in der Antike bekannten und auch im Mittelalter verwendeten Konstitutionstypen (Choleriker, Phlegmatiker, Sanguiniker und Melancholiker). Ein letzter Themenkomplex geht schließlich auf die Gesundheitsregeln ein und behandelt medizinische Aspekte wie Aderlaß und Blutschau, aber auch Baden und Schröpfen sowie Luft und Luftverschmutzung. Das Werk führt danach mit psychotherapeutischen Hinweisen weiter. Den Abschluß bilden ein Rezeptanhang und Tafeln zur Festtagsberechnung sowie zur Bestimmung der Stundenregenten.Das mittelalterliche Weltbild war durch seine Geschlossenheit harmonisch, was auch in der Weltoffenheit der Miniaturen zum Ausdruck kommt. Die 54 Miniaturen stammen von gewandter Künstlerhand und stehen technisch auf der Höhe mittelalterlicher Buchmalerei. Edelste Farbstoffe nebst schimmerndem Blattgold wurden für die Ausführung der Kleinode verwendet. Der Künstler übernahm zwar die Bildmotive der Tradition, gestaltete sie aber eigenständig und in großer Variationsbreite aus. Er vereinigt gotischen Realismus mit altdeutscher Innigkeit und läßt dabei die Heiterkeit spätmittelalterlichen Bürgertums durchscheinen. Er erweist sich als scharfsichtiger und weltoffener Beobachter der ihn umgebenden Welt des Mittelalters. Der wissenschaftliche Kommentarband dringt auf etwa 200 Seiten in die tiefsten Schichten der Handschrift vor. Folgende Experten haben Beiträge zum Werk verfaßt: Dr. Christoph Weisser, Medizinhistorisches Institut Würzburg, Prof. DDr. Gundolf Keil, Würzburg, und Prof. Dr. Huldrych M. Koelbling, Zürich.