Bemerkung:
Unter dem Titel «Aargauer Bürgerbuch» erschien 1978 zum Kantonsjubiläum 175 Jahre Aargau eine besondere Festschrift. Unter der Ägide des Publizisten Werner Geissberger (1921–1986) steuerten verschiedene Gruppierungen und Einzelpersonen Dutzende von Beiträgen zu einem «rebellischen Aargau» bei. So entstand ein Panorama von kritischen, ironischen, anklagenden, künstlerischen Standpunkten zu den damals brennenden Themen: von der Anti-AKW-Bewegung bis zur Forderung nach kleineren Schulklassen, von der Ausgrenzung der Frauen bis zur Kritik an der politischen Einseitigkeit der Aargauer Tageszeitungen, von der gescheiterten Aargauer Universität bis zu überdimensionierten Strassenprojekten, vom Artensterben in den trockengelegten Aargauer Mooren bis zu neuen Formen der Energiegewinnung und des Zusammenlebens in genossenschaftlichen Wohnsiedlungen. Die Artikel geben sich angriffig und stellen immer wieder die Deutungshoheit und die Perspektiven der politischen Mehrheiten in Frage: «Wer darf systemverändern? Und wer tut es tatsächlich?» Kleine politische Grüppchen ohne jeden Einfluss oder Grossunternehmen, die mit ihren Technologien ohne gesellschaftliche Diskussion die Standards setzen? Zu Wort kommen im Bürgerbuch Menschen, denen sonst ein Forum meistens fehlt: Fremdarbeiter, Jugendliche, Hausfrauen.Der Rückblick auf einen besonderen Kanton, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Fürstenthrone Europas herausgefordert und sich auf die Volkssouveränität berufen hatte, bot den Kritikerinnen und Kritikern der 1970er Jahre die Vorlage, um das «aargauische Rebellenlied» jenseits des obrigkeitlichen Redeflusses zum Kantonsjubiläum wieder aufklingen zu lassen. Heute ist das Aargauer Bürgerbuch von 1978 ein interessantes historisches Zeugnis für die ausserparlamentarischen Debatten und Akteure von damals. Die Gruppen und Grüppchen mussten sich zunächst einen eigenen Informationskanal für ihre Aktionsformen schaffen, um überhaupt Gehör zu finden. Die Macherinnen und Macher des «Bürgerbuches», darunter auch einige später bekannte Autorinnen und Autoren wie Hansjörg Schneider oder Claudia Storz, entschieden sich für eine Art Camouflage: Im Gewand der Festschrift und als Buch für die vermeintlich alteingesessenen Honoratioren übten sie eine über weite Strecken ätzende Kritik an den Zuständen im «dunkeläugigen» Kanton und scheuten sich auch nicht, die aus ihrer Sicht dafür Verantwortlichen aufs Korn zu nehmen. Klappt man den Deckel auf, begegnet man einer kritischen Heimatkunde im Auftritt des Raubdrucks: unterlegt sind die Texte mit Recherchen, Comicstrips, Gedichten, Bildstrecken. Mag das «Bürgerbuch» in seinem rotzigen Ton etwas in die Jahre gekommen sein, so haben viele seiner Themen doch nichts an Aktualität eingebüsst. (Fabian Saner)