Bemerkung:
Auswahlbibliographie, Personen- u. Sachregister.- Eine alphabetisch geordnete Liste aller mittelalterlichen Ketzereien, die in dieser vorzustellenden Monographie genannt werden, reicht von A wie Adamiten - einem Schimpfwort für eine hussitische Gruppe, der man nachsagte, die Nacktheit Adams nachzuahmen - bis zu Petrus Waldus, dem reichen Lyoner Kaufmann, der als Gegen-Petrus den armen Christus verkündete und das meist nur im Untergrund tun konnte. Malcolm Lambert hat seinen Überblick im Stile bester angelsächsischer Wissenschaftstradition abgefasst; er kommt dem Ideal einer fussnotenfreien Arbeit schon recht nahe. Seine Einsichten und Überlegungen werden die einschlägigen Untersuchungen zu Einzelphänomenen aus dem Bereich mittelalterlicher Häresie und Ketzerverfolgung nicht ersetzen, sondern ergänzen - indem sie Verständnis wecken für die Farbigkeit mittelalterlicher Glaubensvorstellungen.Anschaulich und drastisch erzählt Lambert von den dualistischen Mythen der Katharer: Sie assen deshalb kein Produkt eines Zeugungsvorgangs, weil sie die Tiere, Fische und Vögel als Fehlgeburten ansahen. Die seien wegen der Hitze des Kampfes zwischen Gott und seinen Engeln einerseits und den gefallenen Engeln auf der Seite des Satans andererseits vorzeitig aus den Leibern ihrer Mütter gekrochen. Gezeugt worden waren diese Wesen dem katharischen Vorstellungskreis nach in der Vereinigung zwischen satanischen Engeln und Menschenfrauen. Deutlich werden aber nicht nur solche monströsen Abstrusitäten, die freilich in der Binnenoptik der jeweiligen Ketzergruppen überzeugend gewirkt haben müssen, sondern auch die offenen und untergründigen Wechselwirkungen zwischen häretischen Bräuchen und orthodox katholischen Lehren. Zwischen Consolamentum und Letzter Ölung besteht ebenso nur ein minimer Unterschied wie zwischen den Waldensern und den neuen Bettelorden der Franziskaner und Dominikaner. Deutlich macht die Geschichte der Häresien also, wie elastisch die römische Kirche auf die Bedürfnisse und Interessen der Gläubigen reagierte. Das Hoch- und das Spätmittelalter waren Lamberts Darstellung nach nicht die Zeit der einmütigen Einheitskirche. Eine solche Catholica war zwar das offizielle Ideal der mittelalterlichen Ketzermeister und auch noch das der Theologen protestantischer Territorialkirchentümer. Faktisch bestimmt aber war das religiöse Leben und Denken schon im Mittelalter von einem hohen Mass an religiösem Synkretismus und Pluralismus. Darauf in einer lesbaren Synthese aufmerksam zu machen, dürfte das entscheidende Verdienst Lamberts sein. Über der Schilderung von Mythen und den Hinweisen zur Verbreiterung ketzerischer Ideen wird die Blutspur nicht vergessen, mit welcher sich die Inquisition durch die Lande wälzte. Die Güter der überführten Häretiker - und man weiss, dass Folter die «Feststellung» einer Irrlehre stark erleichterte - wurden von der Obrigkeit konfisziert. Ein durchaus einträgliches Geschäft.(NZZ)