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Der Rassendiskurs beruhte nie allein auf dem schlichten Glauben an ewige Unterschiede, sondern vor allem auf einem instrumentellen Wissen vom Leben und Überleben der Körper und Bevölkerungen. Dieses Wissen zu einem Maßstab politischer Gemeinschaftsbildung in der Moderne gemacht und damit Partikularität und Differenz von einer Herausforderung politischen Denkens in ein manipulierbares Objekt biopolitischer Kontrolle verwandelt zu haben, ist das bis heute nachwirkende Erbe der Verschränkung von Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert. Der Rassendiskurs des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts hatte mehr als eine Grundlage: In ihm artikulierte sich nicht nur der Glaube an ewige Unterschiede, sondern auch ein instrumentelles Wissen vom Leben und Überleben der Körper und Bevölkerungen. In der Verschränkung von Rassendiskurs und Nationalismus wurde dieses Wissen zu einem Maßstab "gelingender" politischer Gemeinschaftsbildung in der Moderne. Was hier gelingen sollte, war die Verwandlung von Partikularität und Differenz in ein manipulierbares Objekt biopolitischer Kontrolle. Christian Geulen untersucht diese Zusammenhänge in der Herausbildung des Evolutionismus ebenso wie in der Entstehung des modernen Rassismus, im völkischen und antisemitischen Denken wie in der Reform- und Frauenbewegung, im amerikanischen Nativismus wie in der deutschen Kolonialdebatte. Das vom Autor herangezogene Material ist so vielfältig wie die von ihm bearbeiteten Kontexte. Es reicht von theoretischen Schriften über populäre Zeitschriften bis zu den Inszenierungen von Kolonial- und Hygieneausstellungen. Mit diskursanalytischem Blick auf die Semantik, Struktur und Funktionsweise der rassentheoretischen Annahmen und nationalen Selbst- und Fremdbilder arbeitet Geulen heraus, was ihnen jenseits nationaler, parteipolitischer oder sozialer Positionen gemeinsam war: die Verwandlung politischer Gemeinschaften in biopolitische Wahlverwandtschaften. Entgegen der geläufigen Annahme, daß der Rassendiskurs eine Essentialisierung nationaler Grenzen und Identitäten bewirke, rekonstruiert Geulen die Dynamik rassentheoretisch begründeter Formen nationaler Identifikation. Diese mündete in der fatalen Behauptung, die Nation sei biopolitisch herstellbar. Mit Blick auf drei Leitmotive der politischen Kultur im späten 19. Jahrhundert - Wissenschaft, Gesellschaft und Imperium - betont der Autor die übergreifende Bedeutung und Rolle des Rassendiskurses in den politischen Selbstverständigungsprozessen jener Zeit. Geulen legt mit seiner Analyse der Funktionsweise des Rassendiskurses eine neue Interpretation der Radikalisierung des Nationalismus um 1900 vor, die zugleich als Beitrag zur heutigen Diskussion über die Formen und Konsequenzen politischer Gemeinschaftsbildung zu lesen ist.